Baumgeschichte - Tannli-max

Wihnachtsbäume
Max Schmid
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Baumgeschichte

Es war einmal ein kleiner Tannenbaum...  

Eine Weihnachtsgeschichte von Thomas Meyer


Der kleine Tannenbaum gehörte zur Gattung der Nordmanntannen, die nach ihrem Entdecker Alexander Nordmann benannt sind; einem finnischen Forscher, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Kaukasus auf diese Tannenart stiess. Die Nordmanntannen haben ganz weiche Nadeln. Deshalb lösten sie vor einigen Jahren die Fichten und Blautannen als bevorzugte Weihnachts baumsorten ab. Denn die Fichten und Blautannen piksen, nadeln und harzen, was das Zeug hält.


Foto: Sigmund Pettersen

Eine Nordmanntanne kann sechzig Meter hoch und fünfhundert Jahre alt werden. Wenn sie Glück hat. Glück heisst in diesem Fall: Wenn sie im Kaukasus lebt. Der kleine Tannenbaum lebte allerdings in Dänemark. Zusammen mit hundert Millionen anderen Nordmanntannen. Dänemark ist eines der grössten Herstellerländer für Weihnachtsbäume. Fünf Millionen Stück exportiert Dänemark jedes Jahr. Die, die gross genug sind.

Es war einmal ein kleiner Tannenbaum.

Schon dreimal hatte der kleine Tannenbaum entsetzt mitangesehen, wie Ende November die bärtigen Männer mit den dicken Jacken und den lauten Sägen kamen und die ältesten Tannen fällten, die fünfjährigen, und auf einen Lastwagen warfen. Die Sägen kreischten, Holz sprühte, und die gefällten Tannen jammerten und klagten auf den Pritschen, und als die Männer in ihre Lastwagen einstiegen und davonfuhren, wurde das Jammern und Klagen immer leiser, und zurück blieb eine gespenstische Stille und ein weites Feld von Stümpfen, die bald darauf ausgerissen wurden, sodass der Boden für neue Setzlinge frei wurde.

 Der kleine Tannenbaum kannte auch die Geschichten, die man sich so erzählte: Die gefällten Tannen würden an Menschen verkauft, die sie grässlich verunstalteten, mit allerlei Glitzerzeug, und ein paar Tage später einfach am Strassenrand entsorgten. Meist wurden die Bäume zusammen mit anderem Müll verbrannt und waren weder fünfhundert Jahre alt noch sechzig Meter hoch geworden.
Der kleine Tannenbaum wusste: Im Kaukasus würde ihm sowas nicht blühen. Im Kaukasus würde er riesig hoch und uralt werden. Also beschloss er, aus der dänischen Baumschule zu flüchten. In den Kaukasus.

 Als er seinen Plan seinen Brüdern erzählte, lachten sie ihn aus. Wie er das anstellen wolle, fragten sie. Ob er etwa die Männer mit den Sägen bitten wolle, ihn in den Kaukasus zu fahren, scherzten sie. Dann wurden sie ernst: Er wisse genau, welches Schicksal sie alle erwarte, er solle es ihnen durch solche dummen Träumereien nicht noch erschweren, sondern lieber schweigen, wenn ihm nichts Besseres zu sagen einfalle. Der kleine Tannenbaum schwieg, und es wurde Sommer und wieder Winter und wieder Sommer, viereinhalb Jahre alt und einen Meter vierzig hoch war er nun, und er wusste: Mit dem Winter würde sein Ende kommen. Über seinen Fluchtplan hatte er mit niemandem mehr gesprochen. Doch das bedeutete nicht, dass er ihn nicht insgeheim weiterentwickelt hätte.

 Die Nächte wurden länger, die Tage kürzer, der Wind schärfer, der Regen kälter. Und eines Morgens kamen sie, die Männer mit ihren Bärten und Jacken und Sägen und Lastwagen. Rund um ihn herum gingen sie an ihr trauriges Werk, und zum fünften Mal in seinem jungen Leben hörte er die schrecklichen Klänge der Sägen und der Klagen der Tannen. Als er an die Reihe kam, blieb der Holzfäller verwundert vor ihm stehen. Was war mit dieser Tanne hier los? Sie nadelte wie verrückt, pikste wie tausend kleine Dolche und war klebrig wie ein Honigtopf. Der Holzfäller rief einen Kollegen herbei. Sie berieten sich. Die Tanne sei krank, sagte der eine. Das sei keine Tanne, das sei eine Fichte, sagte der andere. Keine Ahnung, wie die hierhergekommen sei, sagte er. Er habe schon lang keine mehr gesehen. Schade, eigentlich. Fichten seien hübsch. Wenn sie nur nicht so nadeln würden.

 Der kleine Tannenbaum grinste in sich hinein. Er spannte seine Nadeln noch mehr an, sodass sie pikten wie Dolche, dann stiess er sie bündelweise ab, sodass sie fielen wie Laub, und dazu schwitzte er Harz heraus, dass er nur so an ihm herunterlief. Er war die fichtigste Fichte der Welt. Die Holzfäller liessen ihn stehen und machten bei der nächsten Tanne weiter. Am Abend kam der Holzfäller zurück und grub die Nordmanntanne, die er für eine Fichte hielt, sorgfältig aus, um sie bei sich vor dem Haus einzupflanzen. Er legte sie auf die Ladefläche seines Pickups und fuhr los. Seine Familie würde Augen machen! Eine echte Fichte! Sowas gab es nur noch in den Wäldern.

 An einer Ampel sprang der kleine Tannenbaum von der Ladefläche des Pickups, sprang beim nächsten Pickup wieder auf horchte, wo der Fahrer hinwollte, sprang wieder ab, da er nicht nach Nord-Dänemark wollte, sondern in den Süden, hüpfte beim nächsten Pickup wieder auf und gelangte mit dieser Methode nach Georgien. Er benötigte dafür zahlreiche Pickups und mehrere Wochen, doch am Ende, es war schon Ende Januar, lag er auf dem Wagen eines georgischen Bergbauern, zusammen mit zwei Sack Dünger, einer rostigen Schaufel und einem Seil. Immer höher hinauf ging es, das Auto wurde langsamer, sein Motor heulte lauter, und als ein Haus in Sicht kam, sprang der kleine Tannenbaum von der Ladefläche, liess sich einen Abhang hinunterrollen und lag schliesslich vor einer mächtigen, fünfzig Meter hohen, über vierhundert Jahre alten Nordmanntanne.

 «Na, Kleiner, was machst du denn da?», fragte die grosse Tanne auf Georgisch. Der kleine Tannenbaum erzählte, woher er kam. Und warum. «Wie siehst du denn aus!», rief die grosse Nordmanntanne, als sie sah, wie entnadelt der kleine Tannenbaum war. «Jetzt graben wir dich mal ein, und dann erholst du dich mal ein paar Jahrzehnte», sagte die grosse Tanne, und aus ihren Stämmen herab eilten Dutzende von Wühlmäusen und Eichhörnchen, die rund um den kleinen Tannenbaum herum zu graben anfingen.

 Es war einmal ein kleiner Tannenbaum. Er war nicht mehr so klein, schon zehn Meter hoch, und doch schon hundert Jahre alt. Bei den Tannen geht eben alles ein bisschen langsam. Aber er hatte ja noch Zeit.

Thomas Meyer (*1974) arbeitet ais Autor und Texter in Zurich.
Quelle:  Aargauer Zeitung vom: 24.Dezember 2012

03.12.2023
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